Der aktuell schwache weltkonjunkturelle Rückenwind legt die massiven Strukturprobleme in Europa und vor allem in Deutschland schonungslos offen. Dagegen zeigt Amerika eindeutig Stärke. Dennoch sollten Anleger europäische Aktien nicht mit dem angeschlagenen Wirtschaftsstandort Europa gleichsetzen.
Laut den jüngsten Einkaufsmanagerindices nehmen die weltweiten Konjunkturrisiken ab. Von einer durchgreifenden Erholung ist Deutschland aber weit entfernt. Zunächst nimmt die Schwäche in China Exporteuren viel Wind aus den Segeln. Daneben halten die Inflationssteigerungen der letzten Jahre die Kauflaune der Verbraucher immer noch zurück. Und gegen die schlechte Wirtschaftsstimmung scheint im Berliner Polit-Garten noch kein wirksames Kraut zu wachsen. Vielleicht liegt es an der mangelnden Düngung. Offensichtlich ist der Nährboden in Amerika deutlich fruchtbarer.
Das von der Bundesregierung angekündigte „Wirtschaftswende“-Konzept muss deutlich umfangreicher und marktwirtschaftlicher ausfallen, um überhaupt Wirkung zu erzielen. Die überbordende und dysfunktionale Bürokratie muss nachhaltig angegangen werden. Und um die industrielle Basis fit für die Zukunft zu machen, muss die Digitalisierung vorangetrieben sowie die hohe Steuer- und Abgabenlast gesenkt werden. Schließlich muss man die im internationalen Vergleich zu hohen Energiekosten angehen, um als Wirtschaftsstandort ernst genommen zu werden.
Der gegenwärtig an den Tag gelegte parteipolitische Streit selbst bei elementaren Wirtschaftsfragen hinterlässt ein investitionsfeindliches Umfeld. Positive Einzelmeldungen wie von Microsoft, das sich in Deutschland stärker engagieren will, können die vielen Negativnachrichten wie z.B. die Entlassungswellen bei BASF, Bayer oder Miele nicht überdecken.
Ohne Zweifel hat Amerika Problemfelder, s. die Krise bei Gewerbeimmobilien und ein atemberaubendes Haushaltsdefizit von 6,2 Prozent. Doch werden neue Schulden vor allem für die Stärkung des Standorts ausgegeben, zur Re-Industrialisierung und Sicherung strategisch wichtiger Lieferketten z.B. bei Halbleitern. Und sicherlich würden sich die Wettbewerbsvorteile Amerikas bei einem Wahlsieg von Donald Trump zum Nachteil Europas und Deutschlands weiter verbessern. Dazu gehören leider auch protektionistische Maßnahmen. Doch anstatt jetzt den Stier bei den Hörnern zu packen, verliert sich der alte Kontinent viel zu sehr in Kritik an der US-Politik und in einer Kakophonie von unterschiedlichsten Vorschlägen zur wirtschaftlichen Gesundung. Man kommt einfach nicht „in die Pötte“.
Mit Technologie besetzt Amerika ohnehin den zukunftsträchtigsten Wirtschaftssektor. Die größten und erfolgreichsten Tech-Werte in den Bereichen Digitalisierung, Cloud und künstliche Intelligenz sind in den USA zu Hause. Die zuletzt starken Quartalsergebnisse - s. Nvidia - sprechen Bände. Hiervon getrieben zeigt sich auch wieder ein verstärkter Gewinnvorteil von US- gegenüber europäischen Unternehmen, der sich in einer eindeutigen Outperformance von US-Titeln (S&P 500) gegenüber europäischen Aktien (Stoxx Europe 600) niederschlägt.
Immerhin kommen die Aktienmärkte der Eurozone in den Genuss einer im Vergleich zur Fed weniger restriktiven Geldpolitik. Die EZB könnte sogar schneller senken als die Fed, die sich vor der US-Präsidentschaftswahl nicht dem Vorwurf der politischen Einflussnahme aussetzen will.
Ebenso zeigt sich die EZB in puncto Liquiditätsabzug deutlich weniger streng als die Fed. Während die US-Notenbank monatlich 95 Mrd. US-Dollar abzieht, beträgt die „Entwässerung“ der EZB durchschnittlich lediglich 25 Mrd. Euro.
Aufgrund der schlechten Wirtschaftsnachrichten liegen die Bewertungsabschläge der Eurozone und vor allem deutscher Aktien zur US-Konkurrenz mit rund 37 bzw. 42 Prozent in der Nähe ihrer Rekordstände. Sie sind damit ähnlich günstig bewertet wie Titel der Schwellenländer.
Dieses Bild zeigt sich auch bei den durchschnittlichen Gewinnrenditen in Europa und Deutschland, die jeweils abzüglich Staatsanleiherenditen weit über denen der USA liegen.
Ohnehin erzielen börsennotierte europäische Unternehmen im Durchschnitt rund 60 Prozent ihrer Umsätze auf anderen Kontinenten. Wirtschaftsstandort ist eben nicht gleich Börsenplatz. Dabei sind europäische Champions nicht nur umsatzseitig, sondern auch in puncto Produktion international gut aufgestellt und nutzen geschickt die Standortvorteile in wichtigen Absatzmärkten wie den USA oder China.
Insgesamt spricht dies deutlich für Nachholpotenziale von europäischen zu US-Titeln. Der Fokus sollte dabei auf substanzstarken Value-Aktien mit ertragsreichen Geschäftsmodellen und stabilen Cashflows liegen. Hier hat Europa und Deutschland immer noch viel zu bieten. Konkret bleiben Industrie- und Auto(zuliefer)werte attraktiv, die gerade wegen ihrer zyklischen sowie exportorientierten Ausrichtung bei Krisenberuhigung (soft landing in den USA, fiskal- und geldpolitischen Konjunkturmaßnahmen in China) über große Hebel verfügen.
Aber auch in den Sektoren Gesundheit, Konsum und Technologie finden sich Perlen mit hohen Gewinnmargen. Während Pharmawerte von Perspektiven im Biotechnologiesektor sowie von Innovationen, Fusionen und Übernahmen profitieren, kommt zyklischen Konsumaktien ebenso die Stabilisierung der Weltwirtschaft zugute. Und das, was Europa an Technologie zu bieten hat, ist aufgrund von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz sowieso gefragt.
Gleichzeitig können diese Unternehmen solide Bilanzen mit geringen Verschuldungsgraden vorweisen, die sie zu verlässlichen Dividendenzahlern machen. Apropos Dividenden, hier hat Europa gegenüber den USA definitiv die Nase vorn. Im Übrigen kündigen immer mehr Unternehmen Dividendenerhöhungen an.
Anleger haben sich mit den insgesamt weniger euphorischen Zinssenkungserwartungen abgefunden und trauen sich wieder aus der Deckung. Die Krisenherde sind ohnehin bekannt. Jede Aufhellung hebt die Aktienlaune weiter. Selbst japanische Aktien (Nikkei 225) haben nach über 30 Jahren Durststrecke ein neues Allzeithoch erreicht.
Die volatile Aufwärtsbewegung von rund 11 Prozent bei Bitcoin seit der Genehmigung von Bitcoin-ETFs durch die US-Börsenaufsicht am 10. Januar signalisiert ein wachsendes Interesse an Krypto-Anlagen. Schließlich soll die Produktpalette in den kommenden Monaten um weitere ETFs für Kryptowährungen wie Ether erweitert werden. Hinzu kommt das voraussichtlich im April anstehende „Halving“ beim Bitcoin, bei dem die Prämie in Form neuer Coins halbiert wird, die Bitcoin-„Schürfer“ für die Zurverfügungstellung ihrer Rechner erhalten. Damit wird das zusätzliche Angebot gebremst. In der Vergangenheit haben Halvings tatsächlich zu einem sofortigen Anstieg des Bitcoin-Kurses geführt. Der Rückenwind für Bitcoin könnte also weiter zunehmen, auch wenn Investments spekulativ und volatil bleiben.
Gemäß monatlicher Umfrage der Bank of America liegt der Aktienanteil in den Portfolios der Fondsmanager auf einem Zwei-Jahres-Hoch, der Cashanteil hingegen so niedrig wie zuletzt 2021. Entsprechend gering ist die Absicherung gegen fallende Kurse.
Eine Korrektur würde die optimistischen Anleger aktuell auf dem falschen Fuß erwischen und für ruckartig Kursrücksetzer sorgen. Dieser „Druckablass“ ist aber nichts Ungewöhnliches und sogar gesund. Er würde Anlegern wieder günstigere Kaufgelegenheiten bieten, nachdem sich die Märkte - wie in letzter Zeit üblich - schnell bereinigt haben.
Charttechnisch liegen bei fortgesetzter Aufwärtsbewegung die nächsten Widerstände bei 17.429, 17.530 und 17.640 Punkten. Darüber liegen weitere Barrieren bei 17.750 und 18.100. Setzt der Index zur Gegenbewegung nach unten an, trifft er bei 17.347, 17.280 und 17.198 auf erste Unterstützungen. Darunter liegen die nächsten Haltelinien bei 17.118 und 17.049 Punkten.