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Der Markt
unter der Lupe

 
17.11.2022

Hurra, wir leben noch!

Die Krisen, die die Finanzmärkte seit langem belasten, sind zwar noch nicht gelöst. Entspannungen sind jedoch an vielen Baustellen unverkennbar, auf die die Aktienmärkte auch bereits mit extrem viel Euphorie reagierten. Das Schlimmste haben wir hinter uns, aber ist die Börsenerholung nicht viel zu schnell gegangen?

China packt seine Probleme an

Der konjunkturellen Not gehorchend stabilisiert China seine Binnenwirtschaft. Zunächst stützt Peking den maroden Immobiliensektor mit einem umfassenden Reform- und Ausgabenprogramm. Die KP weiß: Wenn Chinesen nicht mehr um ihre Altersvorsorge fürchten müssen - Immobilien sind deren wichtigste Anlageklasse - färbt das auf die Konsumfreude ab. An der ideologisch betriebenen Null Covid-Strategie hält Peking zwar offiziell fest. Immerhin kommt es jedoch zu einer „Strategie-Anpassung“: U.a. der Verzicht auf die Verfolgung von Personen, die nur über Ecken Kontakt zu Infizierten hatten, schafft die Basis für ein Ende der Massenabriegelung ganzer Millionenstädte und Industriestandorte. Damit findet ein sich stabilisierendes Wachstum in China weltkonjunkturellen Niederschlag, was insbesondere Exportnationen wie Deutschland zugutekommt.

Angesichts dieser Maßnahmen haben sich die chinesischen Kreditausfallprämien bereits spürbar zurückgebildet und freundlich am chinesischen Aktienmarkt gestreut.

Der Zins als der natürliche Feind der Aktienmärkte löst immer weniger Angst aus

Amerika lässt seinen Inflationsgipfel hinter sich. U.a. bewegt sich der vom Institute of Supply Management (ISM) ermittelte Subindex für Beschaffungspreise in der Industrie deutlich im Schrumpfungs-Terrain. Die nachlassende Produzentenpreisinflation signalisiert Entspannung auch auf Ebene der Verbraucherpreise.

Selbst am bislang robusten Arbeitsmarkt zeigt sich zinspolitische Wirkung. Und da sich die bisherigen Zinserhöhungen erst mit Zeitverzug zeigen, stehen weitere Restriktionen am Arbeitsmarkt mit Folgen für Konsum und damit Inflation bevor. Bereits aktuell haben mehrere große Tech-Unternehmen wie Meta Platforms oder Amazon großflächige Stellenstreichungen angekündigt.

Zusätzliche Zinsentspannung leitet sich nach den Zwischenwahlen auch aus der zukünftigen Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus ab. Weiteren hemmungslosen Ausgaben- und Verschuldungsoffensiven zur Finanzierung von Geschenken an Haushalte vor der Präsidentenwahl 2024 wird ein Riegel vorgeschoben. Das mildert nachfrageseitigen Preisdruck und gibt der Fed Spielraum für eine weniger wuchtige Zinserhöhungspolitik. So wird übrigens auch das Rezessionsrisiko im kreditabhängigen Amerika gemildert.

In der Tat haben bereits mehrere Fed-Mitglieder signalisiert, dass eine Drosselung des Zinserhöhungstempos bevorsteht. Die Finanzmärkte rechnen für die Fed-Sitzung im Dezember nur noch mit einer Zinsanhebung um 25 Basispunkte. Zudem erwarten sie, dass die US-Notenbankzinsen 2023 insgesamt unverändert bleiben. Dabei wird eine zu Jahresbeginn mögliche Anhebung um 25 Basispunkte im weiteren Jahresverlauf rückgängig gemacht. Die Wende der Zinswende setzt die Fed 2024 mit erwarteten Zinssenkungen um 100 Basispunkte fort. Die Aktienmärkte wird es freuen.

Zinsangst und EZB passen nicht zusammen

Die EZB bleibt ein zinspolitischer Softie. Selbst wenn sie auf ihrer Jahresendsitzung am 15. Dezember die Leitzinsen erneut historisch vergleichsweise deutlich um 0,75 Prozentpunkte anhebt, ist das Prädikat restriktive Geldpolitik fehl am Platz. Die Verhinderung einer zu großen Rezession, einer neuen Schulden- und Banken- oder sogar einer neuen Euro-Krise genießen Priorität. So ist es wenig verwunderlich, dass das französische EZB-Ratsmitglied Villeroy de Galhau bereits betont, dass die Notenbank angesichts der fortgeschrittenen Zinsnormalisierung ab 2023 das Erhöhungstempo drosseln könnte. „Nachtigall, ick hör dir trapsen“ sagen dazu die Berliner.

Ohnehin leistet die jüngste Aufwertung des Euro zu US-Dollar um ca. neun Prozent seit dem September-Tief der EZB Schützenhilfe bei der Bekämpfung importierter Inflation. Da Rohstoffe in Dollar notieren, werden sie günstiger eingekauft. Laut Devisen-Terminmarkt geht die Aufwertung des Euros weiter.

Marktlage - Immer mehr Licht am Ende des dunklen Krisen-Tunnels

Aufgrund der perspektivisch verhalteneren Zinspolitik der Fed atmen auch die Schwellenländer auf, deren Währungen wieder aufwerten und ihre Kapitalflucht nach Amerika bremst. Zudem lässt der importierte Preisdruck nach, was ihren Notenbanken erlaubt, zum Wohle der Wirtschaft weniger Zinserhöhungen durchzuführen. Da die Schwellenländer gleichzeitig einen Großteil ihrer Verschuldung in Dollar aufgenommen haben, entspannt sich ebenso ihr Schuldendienst. Der MSCI Emerging Markets Index hat seit seinem Tief im Oktober bereits gut 13 Prozent zugelegt.

Trotz anhaltender Krisen-Stimmung in der deutschen Wirtschaft blicken die ZEW Konjunkturerwartungen weniger pessimistisch in die Zukunft. Zwar sind Kälteeinbrüche im Winter, mögliche Gas-Rationierungen mit dann auch -Preissteigerungen nicht auszuschließen, doch gibt es auch klare Entspannungsmomente: Das erste LNG-Terminal in Wilhelmshaven ist in nur 167 Tagen gebaut worden und kann in vier Wochen seinen Betrieb aufnehmen. Wenn es darauf ankommt, kann Deutschland also fliegen. Wie großartig wäre es für den deutschen Industriestandort, wenn die (Wirtschafts-)Politik allgemein zupackender, nicht ideologischer würde und sich damit an frühere deutsche Wirtschaftstugenden erinnert?

Dieses Terminal allein deckt bereits ungefähr acht Prozent des deutschen Gasbedarfs ab. Drei weitere Terminals gehen in etwa drei Monaten in Betrieb. Damit wären insgesamt ca. 30 Prozent abgedeckt bzw. ungefähr 50 Prozent der russischen Vorkriegs-Gaslieferungen ausgeglichen.

Diese frohen Botschaften machen sich nicht nur in Frühindikatoren, sondern auch am deutschen Aktienmarkt bemerkbar.

Grafik der Woche

Selbst geopolitische Erleichterungen sind nicht mehr ausgeschlossen. Spielraum für Verhandlungen während der „Winterpause“ im Ukraine-Krieg tun sich dadurch auf, dass sich China auf offener Weltbühne (G-20-Gipfel) gegen eine Eskalation von russischer Seite ausspricht. Grundsätzlich will Peking es sich nicht mit den kaufkräftigen Regionen Europa und Amerika verscherzen. In diesem Kontext deeskaliert Peking ebenfalls den zuletzt hochkochenden Streit mit den USA. Allerdings wird der geoökonomische Wettstreit mit harten Bandagen fortgeführt.

Jegliche Krisenstabilisierung trifft auf zyklische Sektoren in Europa, die die Rezession einpreisen und sich teilweise auf vieljährigen Tiefs in puncto Gewinnbewertung befinden, also Value-Charakter haben. Das gilt vor allem für Unternehmen aus den Sektoren Industrie, Banken und Automobile mit Kurs-Buch-Verhältnissen, die bei theoretischer Liquidation mehr Wert wären als in ihren aktuell niedrigen Marktkapitalisierungen zum Ausdruck kommt.

Zyklischen Unternehmen, die im Infrastrukturgeschäft tätig sind, kommt nicht zuletzt der dramatische Investitionsrückstand der letzten drei Jahre aufgrund von Corona und Ukraine-Krieg zugute. Vor diesem Hintergrund sollten zwischenzeitliche Rücksetzer für sukzessive Aktienkäufe genutzt werden.

Die lange gehegte Vision von Bitcoin & Co. einer Stabilitätsanlage zur Risikostreuung hat sich weiter in das Gegenteil verkehrt. Der Kryptomarkt verzeichnete vor einem Jahr seinen vorläufigen Gipfel bei einer Marktkapitalisierung von 3,1 Bill. US-Dollar, die seither auf rund 860 Mrd. US-Dollar geschrumpft ist. Nach einer gründlichen Flurbereinigung durch ein weniger üppiges geldpolitisches Umfeld, zeigt vor allem der Zusammenbruch der FTX als einer der größten Kryptobörsen die Fragilität der Anlageklasse und erschüttert so das Vertrauen in die Anlagen.

Immerhin trennt der „Krypto-Winter“ die Spreu vom Weizen. Um ernstgenommen zu werden, müssen Kryptos beweisen, dass sie den Krisen und der zunehmenden Regulierung gewachsen sind. Danach ist die Branche professioneller, stabiler, weniger schwankungsanfällig und mit dramatisch geschrumpfter Anzahl an Kryptoanlagen aufgestellt. Der Bitcoin wird überleben. Bis dahin bleiben die Kryptos allerdings Spekulationsobjekte, zumal weitere Schreckensmeldungen zu erwarten sind. Im Gegensatz dazu präsentiert sich Gold seit Jahresbeginn als braver und sicherer Hafen.

Sentiment und Charttechnik DAX - Ab und zu Zeit für eine Verschnaufpause

Aus Sentimentsicht ist der Knoten geplatzt. Wir sind durch. Insbesondere Hedgefonds, die an den Terminmärkten auf fallende Kurse setzten, mussten ihre teilweise dramatischen Leerverkäufe zur Verlustvermeidung eindecken und fungierten damit als Katalysator für stark steigende Börsen. Auch laut Umfrage der Bank of America unter Fondsmanagern ist die Stimmung angesichts nachlassender Inflations- und Zinsängste nicht länger „apokalyptisch“.

Die sich zuletzt einstellende Marktberuhigung bei US-Staatsanleihen, die von weniger Inflations- und Zinsangst bewegt werden, schlägt sich ebenfalls in nachgebenden Schwankungen an den Aktienmärkten nieder.

Kurzfristig signalisiert der angesichts der rasanten Kurszuwächse massiv in den Bereich der Gier gedrehte Fear & Greed Index von CNN Money allerdings eine Überhitzung, so dass mit vorübergehenden Rücksetzern an den Aktienmärkten zu rechnen ist. Nach rund 20 Prozent Kursplus in sieben Wochen im DAX ist eine Konsolidierung aber nichts Ungewöhnliches und sogar gesund.

Ohnehin wartet angesichts der vergleichsweise hohen Kassenhaltung noch viel Geld an der Seitenlinie, das sich bei weiter verbesserten Perspektiven an die Aktienmärkte traut und dann klar für eine Jahresend-Rallye spricht.

Charttechnisch liegen auf dem Weg nach unten die nächsten bedeutenden Unterstützungen bei 14.146 und 14.124 Punkten. Werden diese unterschritten, sind Kursverluste bis 13.971, 13.960 und 13.800 einzukalkulieren. Weitere Auffanglinien liegen schließlich bei 13.795, 13.599 und 13.581. Orientiert sich der DAX weiter nach oben, liegen erste Hürden bei 14.347 und 14.364. Nächste Widerstände liegen darüber bei 14.384, 14.533 und 14.815 Punkten.