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Halvers
Kolumne

 
17.10.2019

Die Selbstzerstörung des Westens

Es war einmal der „Westen“, jahrzehntelang nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wertebündnis, das Freiheit, Sicherheit und Wohlstand bescherte. Unter Führung der USA war der Westen damals geo- und wirtschaftspolitisch das Maß aller Dinge. Mittlerweile jedoch sind Zerfallserscheinungen unverkennbar.  

Wenn der US-Präsident von America First spricht, meint er Trump First

Heute sitzt in Washington ein Nero an den Machthebeln, der, wenn es ihm persönlich nutzt, keine Hemmungen hat, verbrannte Erde zu hinterlassen. Klug wäre es, mit Europa eine starke gesamtwestliche Strategie gegen China zu verfolgen. Stattdessen nimmt er mit feindlichen Aktionen gegen die „Verbündeten“ in der EU die Nestbeschmutzung des westlichen Bündnisses bewusst in Kauf, weil es im Präsidentschaftswahlkampf gut ankommt. Dieser Narzisst interessiert sich nicht für Amerika oder den Westen, es geht nur um ihn.

Die USA befinden sich in der geopolitischen Rezession

Dazu passt auch der Rückzug amerikanischer Truppen aus Nord-Syrien. Das ist Hochverrat an den Kurden, die bislang für Amerika im Kampf gegen den IS die Drecksarbeit machen durften. Für amerikanische Wähler mag Syrien weit weg sein. Doch hat Trump damit die Zündschnur am Pulverfass Mittlerer Osten angezündet. Erst durch den Truppenabzug hat sich Erdogan getraut, einen Expansionskrieg in Nord-Syrien zu starten, der von seinen großen innenpolitischen Problemen ablenken soll.

Wenn sich die Supermacht USA geopolitisch zurückzieht, schneidet sie sich ins eigene Fleisch. Im Hintergrund reibt sich Putin bereits freudig erregt die Hände, der das amerikanische Machtvakuum im Mittleren Osten mit Hilfe seines nützlichen türkischen Erfüllungsgehilfen füllen wird. Und wenn Trump jetzt eine „Weder Fisch noch Fleisch-Politik“ in puncto Erdogan betreibt, die zwischen brachialen Sanktionen, brüchiger Waffenruhe und Männerfreundschaft schwankt, hat das nichts mit selbst erklärter „großer und unübertroffener Weisheit“ zu tun, sondern mit spätrömischer Dekadenz. Nach 1.000 Tagen Trump im Oval Office zerrinnt Amerikas diplomatische und geopolitische Reputation wie Sand in einer Sanduhr.

Schaut man auf die dilettantisch agierenden demokratischen Gegenkandidaten, muss Trump wenig Angst vor einer Abwahl im November 2020 haben. Aus heutiger Sicht wird ebenso ein Amtsenthebungsverfahren im US-Senat scheitern. So kann sich Trump im Wahlkampf als Sieger verkaufen. Der Westen leidet weiter an Schwindsucht.

Europa verzwergt sich  

Rein theoretisch könnte Europa die alten westlichen Werte verteidigen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden bei uns erfunden. Doch selbst Großbritannien als Wiege der modernen Demokratie fällt aus. Dort denkt ein geklonter Donald auch nicht an sein Land, geschweige denn an Europa, sondern nur an sich.

Geopolitisch führt auch der Rest Europas nur einen Zwergenaufstand gegen Autokraten. Knallharte Wirtschaftssanktionen, die den Sultan aufgrund seiner Konjunkturkrise durchaus beeindruckten, werden gescheut, weil sich dann die türkischen Flüchtlingstore öffnen. Die Geschichte zeigt, dass unmutige Beschwichtigungspolitik der Marke „Toleranz gegenüber Intoleranz“ das Problem nicht lösen, sondern verstärken. Wir lassen uns erpressen.

Europäische Waffenembargos gegen die Türkei sind nur Wattebällchen. Sie können durch andere Vollsortimentanbieter ausgeglichen werden. Wer bereits russische Raketen gekauft hat, wird auch Panzer und Flugzeuge aus Russland erwerben. So zerfasert das westliche Militärbündnis an seinem südosteuropäischen Rand zur erneuten Freude Putins weiter. Ohnehin hat die Nato an Abschreckung verloren. Man muss den Eindruck gewinnen, dass die Bundeswehr zur Heilsarmee umgebaut werden soll. Denn warum erfüllt Deutschland nicht das von Berlin vertraglich vereinbarte Ziel eines Wehretats in Höhe von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung? So gibt man übrigens Trump nur unnötig Munition, gegen uns zu stänkern.

Wer nur mit moralischer Überheblichkeit gewinnen will, hat wirtschaftspolitisch verloren

Die Spatzen pfeifen es längst vom Dach des Bundeswirtschaftsministeriums: Deutschland als früherer Stern am europäischen Wirtschaftshimmel steht vor einer Rezession. Handelskrieg und Brexit haben sicherlich zur Verunsicherung beigetragen.

Leider hat Berlin in den guten Konjunkturjahren keine Eichhörnchen-Politik betrieben, die für harte Zeiten vorsorgt. Stattdessen die schöne heile Welt mit immer mehr Sozialleistungen zu versprechen, ohne zu sagen, wie diese erwirtschaftet werden, ist aber schon mathematisch unvernünftig. Das Fell des Bären kann man eben erst verteilen, wenn er erlegt ist.

Oder war dieses Zitat jetzt politisch inkorrekt, weil ich damit indirekt der Tierquälerei das Wort rede? Tatsächlich macht sich in Deutschland ein Zeitgeist breit, der kritische und hinterfragende Meinungen abseits des moralisch einwandfreien mainstream bekämpft. Selbst Kabarettisten, die berufsbedingt Dinge aufs Korn nehmen, geraten immer mehr in die Schusslinie einer fanatischen Moral-Polizei. In Bundestag und Talk-Shows hört man viele Politiker nur noch in beschönigender Gutmensch-Sprache säuseln. Früher waren Franz-Josef Strauß von der CSU oder Herbert Wehner von der SPD alles andere als politisch korrekt. Doch damals gab es auch keine politischen Ränder. Vielleicht sollten Politiker ihre emotionale Kompetenz aus der Tiefkühltruhe holen. Man sollte bitte wieder mehr Streitkultur zulassen, Denkverbote verbieten und unbequeme Dinge ansprechen.

Geht es dem Esel zu gut, geht er aufs Eis

Das gilt auch für Wirtschaftsfragen. Mit Bürokratie, Verfall der Logistik, Technologiefeindlichkeit, Steuerwucher und den höchsten Strompreisen verjagt Deutschland seine starken Branchen sehenden Auges nach Amerika und Asien, wo sie über Standortverbesserungen ohnehin auf eine große Willkommenskultur treffen. Wie will man so Arbeitsplätze sichern, geschweige denn schaffen? Nur mit „Heile, heile Gänschen“ oder dem Anbau biologisch einwandfreier Kartoffeln werden wir unseren Wohlstand nicht halten. Wirtschaft ist zwar nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles andere nichts. Das heißt, schmerzfreie, weil reformlose Wirtschaftspolitik ist nicht möglich. Vogel friss oder stirb.

In diesem Zusammenhang, welche rationalen Gründe sprechen gegen eine hohe staatliche Kreditaufnahme, um einen erstklassigen, logistisch und technisch konkurrenzfähigen Wirtschaftsstandort zu schaffen, der unseren Wohlstand langfristig sichert? Nichts Anderes machen die USA und China, die aber im Vergleich zu uns dafür Zinsen zahlen müssen. Kaputtsparen ist keine Lösung.

Suchen wir für die geo- und wirtschaftspolitischen Probleme Europas nicht nur die Schuld bei Donald und Boris. Ändern kann man nur sich selbst, nicht die anderen. Wenn sich die Politik nicht um unsere Zukunft kümmert, werden es früher oder später andere tun, die es aber bitte nicht tun sollten.

Und wenn Europa erst einmal geo- und wirtschaftspolitisch nach unten durchgereicht wird, geraten auch die europäischen Finanzmärkte unter die Räder.

Herzliche Grüße nach Berlin!