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Halvers
Kolumne

 
04.05.2022

Alle Jahre wieder die gleiche Diskussion: Sell in May and go away?

Gibt es wirklich Börsenregeln, an denen man sich wie an „Heiligenbildern“ festhalten kann? Eine der bekanntesten lautet: Im Mai, vor den schwachen Börsenmonaten im Sommer, sind Anleger gut beraten, ihre Aktien zu verkaufen. Im September sollten sie zurückkommen, um von der Jahresendrallye zu profitieren. Hat diese Regel in der Vergangenheit funktioniert und wenn ja, lässt sich daraus auch eine Gesetzmäßigkeit für die aktuelle Börsenentwicklung ableiten?

Es war einmal…die gute alte Börsenzeit. Damals waren westliche Finanzmärkte noch weitgehend unter sich und ziemlich losgelöst von den noch wenig bedeutenden Schwellenländern. Und die Politik/Geldpolitik nahm nur die Rolle der Schiedsrichter ein, die die Rahmendaten für Wirtschaft und Finanzmärkte setzten. Ja, z.B. bezogen auf den S&P 500 lässt sich seit 1950 tatsächlich eine durchschnittlich schwächere Börsenphase zwischen Mai und Oktober gegenüber der Zeitspanne November bis April von ca. fünf Prozentpunkten errechnen.

Nicht Börsenregeln, sondern der Markt bestimmt

Ist diese Börsenweisheit noch zeitgemäß? Zunächst würden professionelle Anleger und Hedge-Fonds jede halbwegs funktionierende Börsenregel durch entsprechende Spekulation zerstören.

Außerdem werden die Außeneinflüsse immer größer. Es gibt New Kids on the Block. Schwellenländer wie China sind geopolitisch und wirtschaftlich längst systemrelevant für die (Finanz-)Welt und scheren sich nicht um westliche Saisonalitätsmuster, die sie aufwühlen wie der Pflug den Acker im Frühling. Irgendwo auf der Welt passiert doch immer irgendwas, das aufgrund der Globalisierung wie fallende Dominosteine auch irgendwann die klassischen Börsen erreicht.

Vor allem aber halten sich heute Fiskal- und Geldpolitik nicht mehr zurück. Aus Schiedsrichtern sind die eigentlichen Spielmacher an den Börsen geworden. Egal, ob Immobilien-, Finanz-, Schulden- und Bankenkrise, ob Brexit, Handelskrieg oder die Euro-Rettung, mittlerweile muss die Politik Eigentore und Niederlagen nicht nur saisonal, sondern an 365 Tagen im Jahr verhindern. Auch in der heißen Jahreszeit ist die Rettungspolitik nicht im Lockdown, was die Finanzmärkte stützt.

Ja, im Sommerloch 2015 wurde die Griechenland-Krise gelöst, was dem DAX anschließend ein Plus von 20 Prozent bescherte. Oder 2022: Angesichts der üppigen staatlichen und geldpolitischen Corona-Hilfsaktionen nahm die Aktienmarktrallye im Mai des Jahres erst richtig Fahrt auf. Sehr schade, wenn man die Mai-Regel befolgt hätte.

Und, könnte sich die Börsenregel in diesem Jahr bewahrheiten? Weder die Geldpolitik in den USA noch Europa werden eine knallharte Inflationsbekämpfung betreiben wie es ihre knallharte Rhetorik vermuten lässt. Die Wahrheit ist doch, dass die Finanzierung der Überschuldung, des grünen Wirtschaftsumbaus, der Digitalisierung, der Aufrüstung sowie der Glättung der Konjunktur- und sozialen Risiken infolge des Ukraine-Kriegs keine radikale geldpolitische Schubumkehr zulassen, ohne die Büchse der Pandora zu öffnen. Hier passt das frühere Motto eines bekannten Elektronikhändlers: „Ich bin doch nicht blöd“.

Sowieso ist denkbar, dass sich im Sommer allmählich ein Inflationsgipfel einstellt. Die Inflations-Überraschungen in den USA geben im positiven Sinne bereits nach. Das verringert die Angst am Aktienmarkt vor im Sommerloch übertriebenen Zinserhöhungen durch die Fed.

Ohnehin haben die Finanzmärkte der Fed mit höheren Zinserwartungen bereits viel Arbeit abgenommen. Sie muss also selbst weniger restriktiv werden.  

Natürlich, im Moment gibt es einige Anzeichen für einen fundamental verregneten Börsen-Sommer wie brüchige Lieferketten, Rohstoffknappheit, Covid-Lockdowns im früheren Konjunkturwachstumstempel China, was in der Berichtsaison und in Ausblicken bereits für Trauerbeflaggung sorgt. Doch wenn z.B. China seine coronale Wirtschaftsschließung lockert, kann sich der Spieß vor allem für Konjunkturwerte wieder umdrehen.   

Aber auch Unangenehmes kann passieren. Die große Unbekannte ist die Kriegsentwicklung in der Ukraine mit all ihren Konsequenzen für Energieversorgung und -preise. 

Es gibt also grundsätzlich keine Gewissheit, wie sich die Börsen ab Mai entwickeln. 

Doch selbst, wenn es hart auf hart kommt, gibt es keine Sippenhaft bei Aktien, die entweder alles kollektiv nach oben oder nach unten treibt. Der Aktienmarkt ist heutzutage ein großer Kleiderschrank: Irgendetwas passt doch immer. Mal Value, dann Growth, mal IT-Werte, dann wieder Zykliker, dann die Defensivqualitäten, mal die klassischen Energiewerte, dann die Umwelt- und alternativen Energietitel. Damit zerbröselt die absolut formulierte Mai-Regel noch mehr.

Überhaupt, in diesem Jahr haben die Aktienmärkte keinen Speck auf den Rippen, an denen sich die Anleger jetzt in Form von Verkäufen laben könnten.

An der Börse wird nicht Vergangenheit, sondern Zukunft gehandelt

Heutzutage ist die Mai-Börsenweisheit nicht viel überzeugender als die Wetterweisheit der Eisheiligen. Was ist an der kalten Sophie heute noch heilig? Zwar könnte es kalt sein, aber genauso könnten wir bei 30 Grad schwitzen.

Insgesamt macht es für Anleger keinen Sinn, auf diesen saisonalen Börsenkalauer zu setzen. An der Börse wird nicht geklingelt wie auf dem Schulhof, um zu wissen, wann die Pause beginnt und wann sie vorbei ist. Ansonsten gäbe es an der Börse nur noch Millionäre.

Und selbst wenn im Sommer die Kurse fielen, ist das ja kein Grund, dem Aktienmarkt fernzubleiben. Gerade sinkende Kurse sind doch ein attraktives Umfeld für regelmäßiges Aktiensparen als attraktive Form der langfristigen Altersvorsorge. Eine Waschmaschine kauft man ja auch am liebsten günstig. Im Einkauf liegt der Gewinn. Wenn das mal keine wirklich goldene Börsenregel ist.

Dagegen passt zur Mai-Regel eine Aussage, die man nach jeder Wertpapierempfehlung liest: Vergangene Kursbewegungen sind keine Garantie für die zukünftige Wertentwicklung.